| 1) ZUM WOHL ALLER WESEN
Was ist das edelste Ziel, das ein menschliches Wesen je anstreben könnte? Wäre etwas Höheres vorstellbar als das Ideal des Mahayana – höchste und vollständige Erleuchtung zu erlangen, den für einen Menschen vollkommensten Zustand, und allen Lebewesen zu helfen, diesen erhabenen Zustand gleichfalls zu erreichen? In den folgenden Kapiteln präsentiert sich uns das menschliche Streben nach Erleuchtung als symbolische Darbietung eines kosmischen Dramas. Wir sehen Menschen in die tiefsten Niederungen des Weltlichen tauchen, um einem leidenden Universum Licht zu bringen. Denn hier befassen wir uns mit den großen Heldinnen und Helden, die im Buddhismus als Bodhisattvas (tib. jangchub sempa) bekannt sind.
"Bodhisattva" bedeutet wörtlich Erleuchtungswesen. Gemeint ist damit ein Wesen, dessen Energie und Interesse einzig dem Erlangen der Erleuchtung gewidmet ist. Zu Erleuchtung gehört die Einsicht, dass die instinktive Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt falsch ist. Also lebt ein Erleuchteter nicht nur für sich, mit dem Gefühl "Das bin ich, das ist mein", und trennt sich so vom Rest der Welt ab. Sehen wir die Welt mit Weisheit, dann verstehen wir, dass "selbst" und "andere" bloß begriffliche Kategorien sind, die wir unserer Erfahrung überstülpen. An diesem Punkt beginnen wir zu begreifen, dass es unmöglich ist Erleuchtung zu erlangen, wenn wir nur an uns selbst denken.
Diese Einsicht hat eine tiefgreifende Wirkung. Es ist, als hätten wir eifrig am Mandala unseres eigenen Geistes gearbeitet, es in vollkommene Harmonie gebracht, um schließlich zu erkennen, dass uns auch dies nie zufrieden stellen wird. Niemals wird es uns wirklich glücklich machen. Denn sobald wir aus unserem Mandala-Palast hinausschauen, sehen wir hinter seinen vajra-Mauern in allen Richtungen ungeheuer viel Leiden. Es ist, als wohnten wir in einem prächtigen Schloss, irgendwo in einer indischen oder südamerikanischen Stadt, in größtem Luxus, während es um uns herum nichts als Baracken aus Wellblech und Plastik, Krankheit und Ungeziefer gibt.
Beinahe schämen wir uns, wenn wir über die Grenzen unseres großartigen Mandala-Palasts hinausschauen. Wir hatten ihn bewundert, hatten gemeint, er wäre vollendet, vollkommen. Jetzt aber müssen wir erkennen, dass das erst der Anfang ist: ein glitzernder Punkt inmitten einer Staubschüssel voller Leiden. Blitzartig verstehen wir, dass das Mandala erst vollendet sein wird, wenn es alle Wesen einbezieht. Seine vajra-Mauern – die die Mauern unseres Herzen sind – müssen aufbrechen, bis sie alles Leben umarmen und schützen.
Auch wenn Bodhisattva wörtlich lediglich "Erleuchtungswesen" heißt, so ist damit doch immer jemand gemeint, der sich verpflichtet hat, Erleuchtung zum Wohl aller Lebewesen zu erlangen – nicht nur für sein eigenes. Aus der Sicht des Mahayana ist ein Bodhisattva jemand, der in zahllosen Wiedergeburten zum Wohl aller Wesen wirkt und ihnen zur Erleuchtung verhilft. Manche westliche Autoren vertreten sogar die Ansicht, ein Bodhisattva schiebe das Erlangen von Erleuchtung auf, um sich weiterhin in den Dienst fühlender Wesen stellen zu können. Erst wenn das letzte Wesen Nirvana erlangt habe, gestatte er es sich selbst in diesen vollkommenen Frieden einzutreten.
Ein inspirierender Gedanke, solange wir ihn als eine poetische Darstellung verstehen und nicht wortwörtlich nehmen. Wie könnte es sein, dass ein Bodhisattva seinen Eintritt ins Nirvana aufschiebt, wie es jene westliche Autoren ausdrücken? Nicht ganz ernst gemeint könnte man einwenden: Wenn der Altruismus von Bodhisattvas so unermesslich groß ist, dass sie in ihrer Vorstellung erwägen, allen fühlenden Wesen den Vorrang vor sich selbst einzuräumen, erzeugt allein dieser edle Gedanke schon eine so außerordentliche Welle von Verdienst, dass diese sie sicherlich auf der Stelle in die vollkommene und unübertroffene Erleuchtung trägt. Ein derart verkehrtes Denken beruht teilweise auf der Vorstellung, Erleuchtung sei ein statischer Zustand, in dem man sich niederlässt. Es ist indes angebrachter, Erleuchtung als einen dynamischen Prozess einer andauernden Entwicklung zu begreifen, die – jenseits von Raum und Zeit – auf eine Weise verläuft, die mit dem rationalen Geist nicht fassbar ist.
Ein solches Verständnis von Bodhisattvas steht in krassem Widerspruch zu dem Nachdruck, den viele buddhistische Überlieferungen auf das möglichst schnelle Erlangen von Buddhaschaft legen. Nach ihrer Ansicht stehen einem Buddha die grenzenlosen Mittel des erleuchteten Geistes zur Verfügung, was natürlich die beste Voraussetzung ist, um anderen Lebewesen zu helfen.
Vielleicht würde es unser Verständnis von Bodhisattvas erleichtern, wenn wir ihr Wesen nicht in traditionell-buddhistischen Begriffen zu erfassen suchten, sondern in modernen wissenschaftlichen. So könnte man einen Bodhisattva auch als eine Art Vorhut im gesamten Evolutionsprozess ansehen.
Über Jahrmillionen hinweg hat sich allmählich Leben entwickelt, wobei immer komplexere und verfeinertere Ebenen von Organismen, von Sein und Bewusstsein hervorgebracht wurden. In den Bodhisattvas wird sich der Evolutionsprozess voll und ganz seiner selbst bewusst. Menschliche Wesen besitzen zumindest Ansätze von reflexivem Bewusstsein: Sie sind sich bewusst, dass sie bewusst sind. Das erlaubt ihnen, den Prozess ihrer weiteren Evolution oder Entwicklung bewusst zu lenken. Die so gesteuerte Entwicklung des Geistes nennen wir "spirituelle Entwicklung" oder "den Dharma üben". Man könnte sie auch als eine künftige oder "höhere" Evolution der Menschheit betrachten.
Bodhisattvas sind sich ihrer selbst bewusst und arbeiten an ihrer eigenen Entwicklung. Darüber hinaus fühlen sie sich mit dem gesamten Evolutionsprozess verbunden und tun alles in ihrer Macht stehende, um ihn voranzubringen. In ihnen werden sich die Evolutionskräfte zunächst ihrer selbst bewusst und wenden sich dann "zurück", um die künftige Entwicklung jener Aspekte des Lebens anzuregen, die auf ihrem Weg zum Licht bislang noch blind kämpfen.
2) VAJRAPANI – DER PFAD DER HEROISCHEN UMWANDLUNG
Wovor fürchten Sie sich am meisten? Eine Illustrierte berichtete vor einigen Jahren über eine Umfrage zu genau diesem Thema. Die Antworten erstaunten mich. Tod rangierte nur an vierter Stelle. Andere häufig vorkommende Antworten waren Spinnen, Schlangen oder die Vorstellung, in einen Fahrstuhl eingeschlossen zu sein. Ganz oben auf der Liste aber stand etwas, das keinerlei physische Gefahr in sich barg, nämlich, vor Publikum zu sprechen. Warum scheint vielen Menschen, die Aussicht vor ihren Mitmenschen eine Rede zu halten, schlimmer als der Tod? Dass es schwierig sein kann, passende Worte zu finden, ist ja nachvollziehbar, aber warum ist es so beängstigend? Warum empfinden Menschen dabei Scheu, Verlegenheit oder gar Furcht?
Solange ich Teil eines Publikums bin, kann ich wunderbar in der Menge aufgehen. Doch wenn ich mich erhebe, um vor allen zu sprechen, löse ich mich aus der Masse. Ich sage öffentlich, was ich denke und fühle, und damit in gewisser Weise oft auch, was die Zuhörer denken und fühlen sollten. Ich stehe im Rampenlicht und muss für meine Ansichten und Meinungen geradestehen. Vor allem aber riskiere ich, mir die Missbilligung der anderen zuzuziehen. Für die meisten Menschen ist das bedrohlich. Denn wir sind oft von anderen Menschen und deren Anerkennung emotional abhängig. Um zu wahrer Unabhängigkeit zu gelangen, ist es ein langer und harter Weg. Doch jeder Schritt, den wir in diese Richtung gehen, ist ein Schritt in Richtung Freiheit. Ein Erleuchteter hängt von nichts Weltlichem mehr emotional ab. Insofern könnte man Erleuchtung auch als einen Zustand völliger Nicht-Abhängigkeit beschreiben.
Die Angst, vor Publikum etwas vorzutragen, hat einen weiteren Aspekt. In einer solchen Situation erleben wir die menschliche Neigung zu Projektion vielleicht deutlicher und stärker als gewöhnlich. Damit meine ich, dass wir bestimmte Seiten unserer Psyche auf irgendetwas oder irgendjemanden außerhalb unserer selbst projizieren und auf diese Weise nur indirekt, als etwas Äußeres erfahren. Wenn wir einen Vortrag halten, projizieren wir möglicherweise unser Sehvermögen. Das heißt, wir können unser Publikum nicht mehr wirklich sehen, dafür aber umso deutlicher spüren, dass alle uns anschauen. Vielleicht projizieren wir auch unser Kritikvermögen. Plötzlich sind wir nicht mehr fähig zu beurteilen, ob unser Vortrag gut oder schlecht ist, das Publikum hingegen erleben wir als scharfe Kritiker. Entscheidend ist jedoch, dass wir auch unsere Stärke projizieren können. Wenn wir uns erheben, um etwas zu sagen, kann es geschehen, dass wir das Publikum als überwältigend erleben. Wir stehen vor 25, 50 oder 1000 Menschen, erleben uns als zahlenmäßig weit unterlegen – und implodieren. Ein Gefühl der Schwäche und Scheu steigt in uns auf, wir sind verunsichert oder gar gelähmt vor Angst. Sind wir uns aber bei einem öffentlichen Vortrag unserer eigenen Stärke bewusst und empfinden sie als Teil von uns, so können wir entspannen. Unsere Energie pulsiert. Wir erleben unser Publikum nicht mehr als potenziellen Gegner. Die Inspiration beginnt zu fließen, die Worte strömen aus dem Mund.
Durch die Übung von Achtsamkeit und Meditation kann man lernen Projektionen zu erkennen und wieder zurückzunehmen. Allerdings ist der Zustand psychischer Ganzheit, den man durch die Rücknahme solcher Projektionen erreicht, von Erleuchtung noch weit entfernt. Auf einer tieferen Ebene fahren wir fort unsere eigenen Vorstellungen auf die Umwelt zu projizieren. So übertragen wir beispielsweise Vorstellungen von Dauerhaftigkeit auf etwas, das in Wirklichkeit nichts als ein Fluss von Prozessen ist und erschaffen so eine Welt fester "Dinge".
Letzten Endes will uns der Buddhismus erkennen helfen, dass unsere Vorstellung von der Außenwelt auch nichts anderes als eine Projektion ist. Indem wir über einen langen Zeitraum hinweg Energie in sie stecken, erschaffen wir sie selbst. Der Dharma besteht aus Methoden zur Rückgewinnung jener Energie, die wir in die Welt der Erscheinungen investieren und dort vergeuden, um sie in uns, als unserer selbst bewusste Individuen, zu sammeln. Wenn das gelingt, verschwindet die trennende Dualität von Subjekt und Objekt, die das Haupthindernis auf dem Weg zur Erleuchtung darstellt. Dinge erscheinen uns nur dann als Objekte, wenn wir sie mit Energie versehen, die wir nicht als unsere eigene betrachten. In Wirklichkeit sind wir ganz, doch unsere Erfahrung der Welt ist davon geprägt, dass wir uns als von anderen Menschen und Dingen getrennt existierende Subjekte erleben. Denn innerlich sind wir mit uns selbst entzweit. Unsere Energien sind gespalten.
Wir stehen also vor der Aufgabe unsere Energien zu integrieren, sie uns, als unserer selbst bewusste Wesen, zugänglich zu machen. Einfacher ausgedrückt und auf die alltägliche spirituelle Übung bezogen bedeutet das, die eigene Passivität aufzugeben, aufzuhören ein Opfer der Umstände zu sein. In bejahende Worte gefasst heißt das, in unserem Leben die Initiative zu ergreifen, positive Veränderungen in Angriff zu nehmen und daran zu arbeiten, alles in vollkommenere Formen zu gießen. Dies gilt sowohl für unsere Geistesverfassungen als auch für das, was uns als Außenwelt erscheint. Unser Leben in dieser Weise aktiv zu gestalten bedeutet aber nicht, auf grobe Weise Macht zu gebrauchen. Gewalt wenden wir nur gegen das an, was wir nicht als unser Eigenes betrachten oder anerkennen.
Dieser Prozess der Mobilisierung von Energie, des Initiative-Ergreifens, des Überwindens der Abhängigkeit von Äußerlichkeiten und des Erreichens eines konzentrierten und freien Energieflusses findet im Buddhismus seinen treffendsten Ausdruck in der Gestalt von Vajrapani (sprich: Wadschrapani; tib. Caknadorje). Sein Name bedeutet "Träger des Diamantdonnerkeils". Er verkörpert spirituelle Energie und ergreift die Initiative im unablässigen Einsatz für das Wohl aller empfindenden Wesen. Auch ist er ein Sinnbild für spirituelles Heldentum, da er es wagt sich der eigenen nach außen projizierten Macht zu stellen, sie sich wieder zu Eigen zu machen und der Dharma-Übung zuzuführen.
3) DIE GRÜNE TARA – DER SCHNELLE WEG ZUR WEISHEIT
In dem Kapitel über Vajrapani haben wir verschiedene negative geistige Gewohnheiten betrachtet, die überwunden werden müssen, damit transzendente Einsicht entstehen kann. Diese Einsicht wird als außerhalb von Zeit und Raum liegend erlebt. Daher vertreten buddhistische Lehrer (ebenso wie manche westliche Philosophen) die Ansicht, dass Zeit eine Funktion des Bewusstseins ist. Lassen Sie uns daher den Bereich der Zeit verlassen, zumindest in unserer Vorstellung, und in den grenzenlosen blauen Himmel der Zeitlosigkeit eintreten.
Im klaren blauen Himmel schwebt eine riesige weiße Wolke. Sie besteht aus Licht, wie alles in diesem inneren Raum. Ihr bloßer Anblick erfüllt uns mit tiefer Zufriedenheit und großer Ruhe. Auf unerklärliche Weise verströmt die Wolke Freundlichkeit und Güte.
Mitten in dieser wunderbaren weißen Lichtflut erscheint ein blaues Augenpaar, das nach unten blickt. Es sind die schönsten Augen, die die Welt je gesehen hat. In die Tiefen dieser saphirfarbenen Augen schauend, sehen wir verschiedene Bilder. Wir sehen Frauen, die unter Schmerzen neue Generationen der Hoffnung gebären, und nur wenig später liegen all diese Hoffnungen auf dem Totenbett, so hilflos wie am Tag ihrer Geburt. Armeen spiegeln sich in diesen Augen, erst in eitlem Prunk marschierend, dann in gesprengten Reihen auf dem Rückzug, ihre Verletzten und Toten wegtragend. Wir sehen fellbekleidete Männer, die Keulen schwingen, Männer in Rüstungen mit Schwertern in der Hand oder in Khaki mit Gewehren, leger gekleidete Techniker, die auf Bildschirme schauen und Knöpfe drücken. Wir sehen Lehmhütten und große Städte. Wir sehen Liebende in Eintracht, Liebende, die sich trennen, Liebende, die einander hassen. Unaufhörlich ziehen diese Spiegelbilder vorbei. Aber nicht nur Menschen, auch Tiere und andere Lebensformen. Die Spiegelungen nehmen kein Ende. Je länger wir schauen, umso öfter scheinen sie sich zu wiederholen. Die Gesichter verändern sich. Verschiedene Landschaften wechseln einander ab. Doch immer wieder sehen wir Geburt, Aufbau, neue Hoffnung, ein kurzes Aufblühen, dann ein allmähliches Versiegen, Schwächer-Werden, Zerstörung – kurz, Alter, Krankheit und Tod.
Die Bilder verschwimmen schließlich wie die Spiegelungen im Wasser eines aufgewühlten Sees. Tautropfen gleich bilden sich Tränen in diesen makellosen Augen und fließen in zwei großen Strömen herab. Sie stürzen zur Erde nieder, formen einen Teich und strömen angesichts der Leiden, die sich in den tränenerfüllten Augen spiegeln, unablässig weiter. Nach und nach entsteht ein gewaltiger See. In seiner Mitte beginnt sich das Wasser langsam zu kräuseln – von etwas aufgerührt, das aus den Tiefen empordrängt. Aus dem Tränensee erhebt sich eine pastellblaue Lotosblüte von außerordentlicher Zartheit. Tränen fallen in das weiche Herz des Lotos und verwandeln es in eine weiße Vollmondscheibe.
Ganz allmählich wird direkt über der Mondscheibe jadegrünes Licht sichtbar. Seine Umrisse nehmen Kontur an, ohne hart zu werden. Wir werden Zeugen der Geburt einer Prinzessin, einer Göttin, eines Bodhisattvas.
Sie ist jadegrün, mit einem Regenbogenrock bekleidet und von ihrer Schulter fällt eine Meditationsschärpe herab. Sie trägt kostbarsten Schmuck: juwelenbesetzte Armbänder, Oberarm- und Beinreifen, Halsketten, Ohrringe sowie edelsteinverzierten Kopfschmuck. Ihr linker Fuß ruht in Meditationshaltung auf ihrem rechten Oberschenkel, während ihr rechter Fuß anmutig herabschreitet. Ein kleiner pastellblauer Lotos mit Mondmatte wächst ihr aus dem See als Fußstütze entgegen. Ihr rechter Arm weist nach unten, der Handrücken ruht auf ihrem rechten Knie. Die Hand ist geöffnet und zeigt die mudra höchsten Gebens. Ihre linke Hand hält sie vor dem Herzen, mit der Handfläche nach außen. Daumen und Ringfinger sind zusammengelegt und die übrigen drei Finger weisen nach oben. Diese mudra verleiht Schutz und Furchtlosigkeit, indem sie die Drei Juwelen anruft. Zart umfassen Daumen und Ringfinger den Stiel einer Lotosblüte, der sich in sanften Windungen emporstreckt, um sich in Höhe ihrer linken Schulter zu entfalten. Wir erkennen eine Knospe, eine halbgeöffnete Blüte und einen voll geöffneten Lotos von zartem Blau. Diese Figur ist sechzehn Jahre alt, mit vollen Brüsten und schwarzem, herabfließendem Haar. Sie ist unbeschreiblich schön.
Nachdem diese wundersame Geburt vollendet ist, heben sich zum ersten Mal ihre jadegrünen Augenlider. Wir sehen zwei vollkommene, blaue Augen, gleich jenen, aus denen sie geboren wurde. Ihr Blick gleitet über die Welt und den Tränensee. Er schweift nach oben, zur weißen Wolke des Mitgefühls weit über ihr. Dann erstrahlt ihr Gesicht in einem Lächeln von solcher Schönheit und Zärtlichkeit, dass die ganze Welt vor Freude erzittert.
Aus ihrem Herzen beginnen Lichtstrahlen zu strömen. Sie scheinen schillernd durch die Tränen des Mitgefühls, die noch immer um sie herum herabrieseln, und lassen Myriaden von Regenbogen erstrahlen. Die Regenbogen tanzen in alle Richtungen. Jeder flüstert einen Ton. Wie Boten der Lüfte tragen sie diesen Ton aus ihrem Herzen hinaus. Sie flüstern ihn den aufgewühlten Wassern des Sees zu, die sich beruhigen und still werden. Sie flüstern ihn den fallenden Tränen zu, die daraufhin umkehren und sich in kostbare Opfergaben für die Wolke des Mitgefühls hoch über ihnen verwandeln. Sie flüstern ihn dem Universum zu – auch Ihnen und mir. Das Geflüster wird vernehmbar: om tare tuttare ture svaha, das Mantra der schönen grünen Prinzessin. Dies ist der Anfang vom Ende all unseres Leidens.
Die schöne grüne Prinzessin, deren Geburt wir gerade miterlebt haben, ist der Bodhisattva Tara. Der Überlieferung zufolge wurde sie aus den Tränen von Avalokiteschvara geboren, dem Bodhisattva des Mitgefühls, als dieser über die Leiden des Universums nachsann. Darum wird sie manchmal auch als Inbegriff des Mitgefühls bezeichnet. Sie verkörpert aus tiefstem Herzen empfundene Anteilnahme in ihrer zartesten Ausprägung.
Mit Taras schöner Gestalt begegnen wir Erleuchtung in ihrer vielleicht zugänglichsten Form. Sie macht es einem sehr leicht sich ihr zu nähern. Der Lotos, auf dem sie sitzt, wächst aus einem irdischen See. Doch wenn wir von Erleuchtung in ihrer zugänglichsten Form sprechen, ist dies poetisch zu verstehen. Der transzendente Pfad ist keineswegs einfach nur eine Fortsetzung des weltlichen Pfads, sondern eröffnet eine völlig neue Dimension. Insofern kann eigentlich auch keine Rede davon sein, näher an Erleuchtung heranzukommen. Dennoch ist es zutreffend, dass manche Situationen für jenen raum- und zeitlosen Sprung vom Bedingten ins Unbedingte bessere Voraussetzungen bieten als andere. Zur vollen Entfaltung kam diese Vorstellung in der Lehre von den Buddha-Samen, die im chinesischen Buddhismus weite Verbreitung fand. Sie besagt, dass die Ausgangsvoraussetzungen für das Erlangen von Buddhaschaft in den sechs Daseinsbereichen mit den jeweils für sie typischen Geistesverfassungen ganz unterschiedlich sind. Wir können Visualisations-sadhanas auch so auffassen, dass man durch ihre Übung in eine neue Welt eintritt. Die Übenden erschaffen ein Reich, von dem aus das Erlangen von Erleuchtung möglichst einfach ist. Wenn wir Taras sadhana üben, betreten wir ihr wunderbares Reich, das nur so überquillt vor Buddha-Samen.
Tara verkörpert Erleuchtung, die zu uns herabsteigt und uns die Hand reicht, um uns emporzuziehen. Sie ist Leerheit im edelsten Gewand. Doch ihre leichte Zugänglichkeit kann zu Missverständnissen führen. Weil sie uns Erleuchtung in solch vertrauter und attraktiver Erscheinungsform präsentiert, verkennen wir nur allzu leicht ihr wahres Wesen. Für Männer mag sie deren weibliche Persönlichkeitsanteile übernehmen, für Frauen als Rollenvorbild dienen und für beide Geschlechter zu einer Art Erd- oder Naturgöttin werden. Doch keine dieser Sichtweisen vermag sie zutreffend zu charakterisieren. Letztlich ist sie nichts von alldem und zugleich weitaus mehr. Sie verkörpert transzendentes Mitgefühl. Sie ist das Unfassbare, das Nicht-Vorstellbare, das Unbegreifliche, das sich uns auf eine Weise darbietet, mit der wir gewöhnlichen Sterblichen etwas anfangen können. Dies wird daran deutlich, dass ihr Körper ganz und gar substanzlos ist, dass er aus Licht besteht und zugleich leer erscheint, weder existent noch nicht-existent.
Je tiefer wir in ihr Wesen eindringen, desto deutlicher wird, dass sie nicht grün ist, dass sie keinen Lotos hält und auch nicht mit ihrem rechten Bein in die Welt hinabschreitet. Ihre schöne Form ist nur das Tor zu einer tiefen inneren Erfahrung, die weder Farbe, noch Form, noch Geschlecht besitzt. Taras äußere Erscheinungsform ist nichts als ein Maulwurfshügel, unter dem sich ein ganzer Berg erleuchteter Eigenschaften verbirgt. Tara ist also beides, leicht zugänglich und unergründlich, vertraut und doch über unseren Verstand hinausreichend. |