| 1) DIE ARCHETYPISCHE SYMBOLIK IM LEBEN DES BUDDHA
Unter der rationalen, abstrakt denkenden Oberfläche des menschlichen Geistes finden wir große unerschlossene Tiefen – das, was man das Unbewusste nennt. Die Psyche als Ganzes besteht aus dem Bewussten und dem Unbewussten. Der unbewusste, nicht-rationale Teil des Menschen macht bei weitem den größeren Teil seines Wesens aus und ist von entscheidenderer Bedeutung als wir normalerweise zugeben möchten. Das Bewusste ist wie leichter Schaum, der schimmernd auf der Oberfläche treibt, während das Unbewusste wie die gewaltigen Meerestiefen dunkel und unausgelotet darunter liegt. Um den ganzen Menschen zu erreichen, genügt es nicht, bloß seine bewusste, rationale Intelligenz anzusprechen, die an der Oberfläche liegt. Wir müssen tiefer gehen. Das bedeutet, wir müssen eine ganz andere Sprache verwenden, als die Sprache des begrifflichen Verstandes und des abstrakten Denkens. Wir müssen die Sprache der Bilder und der konkreten Form sprechen. Wollen wir diesen nicht-rationalen Teil der menschlichen Psyche erreichen, so müssen wir die Sprache der Poesie, des Mythos und der Legende benutzen.
Diese andere, nicht weniger wichtige Sprache haben die heutigen Menschen vergessen oder sie kennen nur noch ein paar verzerrte, bruchstückhafte Ausprägungen davon. Der Buddhismus verwendet diese Bildersprache sehr ausgiebig und nicht weniger ausdrucksstark als die Sprache der Begriffe. Mit Hilfe letzterer werden wir uns nun unserem Thema nähern, um dann vom begrifflichen zu einem nicht-begrifflichen Zugang, vom Bewussten zum Unbewussten zu wechseln. Von dort gelangen wir auf die Ebene der Bilder und Symbole und treffen auf das, was ich "archetypische Symbolik im Leben des Buddha" genannt habe. Um diese Begegnung zuzulassen, müssen wir empfänglich sein und uns diesen archetypischen Symbolen öffnen, ihnen zuhören und erlauben, dass sie auf ihre eigene Weise zu uns sprechen, insbesondere zu unseren unbewussten Tiefen. Dann werden wir sie nicht nur intellektuell verstehen, sondern sie erleben und in uns aufnehmen und schließlich sogar zulassen, dass sie unser ganzes Leben verwandeln.
Die Sprache des Buddhismus
Nicht wenige Menschen meinen, der Buddhismus verwende nur begriffliche Sprache, die Sprache des Verstandes, und sei ein streng rationales System, sogar eine Art Rationalismus. Wenn sie das Wort Buddhismus hören, erwarten sie etwas ziemlich Trockenes und Abstraktes – fast so, als ob sie das Rascheln umgeblätterter Buchseiten hören würden! In gewisser Hinsicht ist ein solches Missverständnis im Westen ganz natürlich. Schließlich stammen neunzig-, wenn nicht neunundneunzig Prozent unseres Wissens aus Büchern, Zeitschriften, Vorträgen usw., das heißt, wir nähern uns dem Buddhismus auf der Verstandesebene, obwohl wir uns dessen vermutlich nicht immer bewusst sind. Dieses Wissen richtet sich an unsere rationale Intelligenz, unsere Fähigkeit abstrakt zu denken. Auf diese Weise bekommen wir einen sehr einseitigen Eindruck vom Buddhismus. Wenn wir dagegen in den Fernen Osten reisen, zeigt sich uns ein ganz anderes Bild. Man könnte sogar behaupten, dass die Menschen in den buddhistischen Ländern Asiens zum anderen Extrem neigen. Sie leben umgeben von ihren Gottheiten und Bildnissen und lassen sich von ihnen beeinflussen, doch fällt es ihnen schwer intellektuell zu beschreiben, woran sie eigentlich glauben. Als ich zum ersten Mal nach Kalimpong im Himalaja kam, wo ich lange leben sollte, war ich zunächst überrascht, wie viele meiner tibetischen, sikkimesischen und bhutanesischen Freunde, die leidenschaftlich praktizierende Buddhisten waren, noch nie etwas vom Buddha gehört hatten. Wenn sein Name erwähnt wurde, dachten sie oft, es handle sich bei ihm um eine unwirkliche, ferne historische Gestalt. Archetypische Formen wie Padmasambhava, die "fünf jinas" oder Maitreya waren für sie real, nicht aber die historischen Fakten und Personen.
Im Westen hat man bisher viel mehr Gewicht auf das begriffliche, analytische und intellektuelle Herangehen gelegt. Nun ist es an der Zeit, dem anderen Zugang mehr Aufmerksamkeit zu schenken und zu versuchen beide Methoden, die begriffliche und die nicht-begriffliche, zu vereinen. Mit anderen Worten, unser spirituelles Leben muss ausgewogen sein, Bewusstes wie Unbewusstes müssen darin eine Rolle spielen.
Bevor wir fortfahren, sollten wir die Schlüsselbegriffe dieses Kapitels erläutern. Was bedeutet archetypische Symbolik und was ist ein Archetyp? Verallgemeinernd gesagt ist ein Archetyp das ursprüngliche Muster oder Modell eines Werks oder das Urbild, nach dem ein Ding hergestellt oder geformt wird. In der Psychologie C.G. Jungs – er war es, der diesen Begriff in den modernen psychologischen Sprachgebrauch einführte – wird der Begriff in einer viel spezialisierteren Form verwendet. Es ist ziemlich schwierig, den genauen Sinn des Begriffs bei Jung zu erhellen, denn er gebraucht ihn sehr fließend und vieldeutig. Die Bedeutung wird nicht immer klar und Jung veranschaulicht ihn auffallend häufig anhand von Beispielen. Dies tut er ohne Zweifel mit Absicht. Vielleicht sollten wir ihm folgen und die Bedeutung dieses Begriffs auch mit Hilfe von Beispielen klären.
Was meinen wir mit Symbolik? Ein Symbol wird allgemein als sichtbares Zeichen von etwas Unsichtbarem definiert. Philosophisch und religiös betrachtet ist es jedoch mehr als das. Es ist etwas auf einer niedrigeren Ebene, das in einem Entsprechungsverhältnis zu etwas auf einer höheren Ebene steht. Um ein geläufiges Beispiel zu nennen: In verschiedenen theistischen Traditionen gilt die Sonne als Symbol für Gott, weil die Sonne im materiellen Universum die gleiche Funktion erfüllt, wie es für Gott im spirituellen Universum behauptet wird. Die Sonne spendet Licht und Wärme, so wie Gott das Licht des Wissens und die Wärme der Liebe in das spirituelle Universum ausstrahlt. Man kann also sagen, die Sonne sei der Gott der materiellen Welt und Gott sei in gleicher Weise die Sonne der spirituellen Welt. Das gleiche Prinzip nimmt auf verschiedenen Ebenen in unterschiedlicher Weise Gestalt an. Hierbei handelt es sich um die alte hermetische Idee des "wie oben, so unten".
2) DAS LEBENSRAD UND DER SPIRALPFAD
Die Erleuchtungserfahrung des Buddha unter dem Bodhi-Baum war eine Schau der menschlichen Existenz, die ihm von da an stets gegenwärtig blieb. Diese Schauung teilte er anderen auf vierfache Weise mit: durch Begriffe und Symbole, durch sein Handeln und durch Schweigen. In diesem Kapitel betrachten wir, wie der Buddha seine Schauung durch Begriffe und Symbole vermittelte.
Das Gesetz der Bedingtheit
Begrifflich ausgedrückt hatte der Buddha unter dem Bodhi-Baum die Wahrheit des Wandels erkannt. Er sah, dass alles prozesshaft ist und dass das in jeder Hinsicht gilt. Diese Prozesse vollziehen sich nicht nur auf der materiellen Ebene, sondern auch auf der geistigen. Er sah, dass es innerhalb der bedingten Existenz nirgendwo etwas gibt, das nicht der Veränderung unterläge, das nicht prozesshaft wäre. In Begriffen indischen Denkens ausgedrückt, sah der Buddha, dass es in Wirklichkeit weder ein "Wesen" noch ein "Nicht-Wesen" gibt, dass alle Dinge entstehen und wieder vergehen.
Aber der Buddha erkannte auch, dass der Wandel nicht zufällig verläuft. Dinge entstehen und vergehen nicht beliebig, sondern alles, was entsteht, entsteht in Abhängigkeit von Bedingungen und alles, was vergeht, vergeht, weil die es verursachenden Bedingungen schwinden. (Es handelt sich hier um völlig natürliche Bedingungen, für die man nicht etwa Erklärungsmuster wie den Willen Gottes heranziehen kann.) Somit erkannte der Buddha nicht nur die Wahrheit des Wandels, sondern auch das Gesetz der Bedingtheit. Auf diesem Gesetz basiert das buddhistische Denken.
Auch wenn es das grundlegende Prinzip buddhistischen Denkens darstellt, lässt sich das Gesetz der Bedingtheit sehr einfach umschreiben: Wenn es A gibt, entsteht B. Fehlt A, entsteht B nicht. Dies ist der berühmte Satz, den Aschvadschit Schariputra verkündete. Aschvadschit war einer der fünf ersten Schüler des Buddha (die ihn verlassen hatten, als er seine Selbstkasteiungen aufgegeben hatte, die er aber nach seiner Erleuchtung wieder zurückgewann). Schariputra war zu dieser Zeit ein Wander-Asket auf der Suche nach Wahrheit. Da traf er auf Aschvadschit, von dessen Erscheinung er sehr beeindruckt war: Aschvadschit schien vor Glück und Frieden zu strahlen. Also fragte Schariputra Aschvadschit: "Wer ist dein Lehrer und was lehrt er?" (Im alten Indien waren das Standardfragen und selbst heutzutage hört man noch oft solche Fragen.) Aschvadschit antwortete: "Ich bin noch ein Anfänger. Ich weiß nicht viel. Aber was ich weiß, will ich dir sagen." Darauf sprach er die berühmten Worte, die in Versform in die heiligen Schriften aufgenommen wurden und folgendermaßen lauten: "Der Tathagata hat den Ursprung all jener Dinge erklärt, die aus einer Ursache hervorgehen. Auch ihr Vergehen hat er erklärt. Das ist die Lehre des großen Asketen." Von einer möglichen Ausnahme abgesehen, ist dies der berühmteste Vers in den gesamten buddhistischen Schriften. Oft wird er als eine Zusammenfassung des Dharmas angesehen. Schariputra hörte diesen Vers und erlangte auf der Stelle einen hohen Grad spiritueller Einsicht.
Nun ist Bedingtheit nicht immer von gleicher Art. Es gibt zwei Grundformen der Bedingtheit, die im Universum wie im menschlichen Leben wirken. Die erste können wir als die "kreisförmig verlaufende" oder "reaktive" Art der Bedingtheit bezeichnen. Die zweite ist gewissermaßen spiralförmig, weiterführend, fortschreitend. Im Fall der kreisförmigen Form von Bedingtheit läuft ein Prozess nach dem Schema Aktion-Reaktion zwischen Gegensatzpaaren ab: Freud wechselt mit Leid, Glück mit Unglück, Verlust mit Gewinn und – im größeren Zusammenhang einer ganzen Reihe von Leben – Geburt mit Tod. Demgegenüber zeichnet sich die spiralförmige Art der Bedingtheit durch eine allmähliche Entwicklung aus, wie zwischen Faktoren, die einander fortschreitend steigern. Hier verstärkt der folgende Faktor die Wirkung des vorhergehenden, statt ihm entgegenzuwirken oder ihn aufzuheben. In Abhängigkeit von Vergnügen entsteht beispielsweise nicht Leid, sondern Glück. In Abhängigkeit von Glück entsteht nicht Unglück, sondern Freude. In Abhängigkeit von Freude entsteht Entzücken, dann Glückseligkeit, Verzückung und Ekstase.
3) DIE SECHS BEREICHE
Überall in Tibet und den angrenzenden Gebieten, besonders im Himalaya, kann man Abbildungen des Lebensrads finden – auf Tempel- und Klosterwänden wie auf Rollbildern. Doch das Lebensrad ist kein Gemälde. Es ist etwas ganz anderes. Deshalb betrachten wir es noch einmal genauer und schauen in es hinein. Denn eigentlich ist das Lebensrad ein Spiegel – ein Spiegel, in dem wir uns selbst erkennen können.
Man könnte sogar so weit gehen zu sagen, das Lebensrad bestehe nicht etwa aus vier konzentrischen Kreisen, sondern aus vier Spiegeln, von denen ein jeder größer ist als der vor ihm liegende. Oder: Wir schauen viermal in den Spiegel und erkennen jedesmal mehr von uns. Das Lebensrad ist also wie ein magischer Spiegel oder eine Kristallkugel, in die wir hineinblicken können. Und das werden wir nun tun. Doch werden wir nicht nur viermal hineinschauen, sondern so oft es nötig ist. Fassen wir also all unseren Mut zusammen und erkennen uns selbst!
In den Spiegel blicken
Wenn wir das erste Mal in den Spiegel schauen, sehen wir drei Tiere: Hahn, Schlange und Schwein. Üblicherweise heißt es, sie verkörpern die "drei Geistesgifte" Gier, Abneigung und Unwissenheit, die in unseren eigenen Herzen sitzen. Das aber lässt uns viel zu leicht davonkommen. Eine solche Erklärung klingt zwar einleuchtend und vernünftig, doch ist sie eher eine Art Selbstschutz. Denn der Schock ist viel größer, wenn wir in den Spiegel schauen und nicht das erwartete menschliche Antlitz sehen, sondern das Gesicht eines Vogels (des Hahns), eines Reptils (der Schlange) und eines Säugers (des Schweins). Und genau das sehen wir im Spiegel. Eben das sind wir. Anders gesagt: Wir erleben durch diesen Blick in den Spiegel ganz direkt unsere eigene Tiernatur – wir sind bloß ein Tier, sogar ein wildes Tier. Wir müssen erkennen, dass wir gar nicht so menschlich und zivilisiert sind, wie wir uns vorkommen. Diese Erkenntnis ist der Anfang des spirituellen Lebens. Wir sehen zunächst, wie wir im Grunde sind, gestehen uns das ein und machen von da aus weiter.
Um das zu tun, müssen wir – wenn wir uns erst einmal von unserem ersten Blick erholt haben - ein zweites Mal in den Spiegel schauen. Diesmal sehen wir in dem Spiegel zwei Pfade. Der eine Pfad führt aufwärts, der andere abwärts; der eine ist weiß, der andere schwarz. Wir erkennen, dass wir zwei Alternativen haben: aufwärts oder abwärts zu gehen, sich weiter zu entwickeln oder zurückzufallen. So einfach ist das, wir können wählen. Jeden Tag von Minute zu Minute haben wir die Wahl. In jeder Situation, in der wir uns wiederfinden, müssen wir entscheiden, ob wir hinaufgehen oder hinabsteigen, dem weißen oder dem schwarzen Pfad folgen wollen. Es liegt ganz an uns.
Nehmen wir an, wir entschieden uns – nach sorgfältiger Überlegung – aufwärts zu gehen, dem weißen Pfad zu folgen, uns weiter zu entwickeln. Das stellt uns vor die Frage: Was muss ich tun, um mich weiter zu entwickeln? Worin besteht der nächste Schritt? Nun, der nächste Schritt hängt davon ab, wo ich mich gerade befinde. Das finden wir mit dem dritten Blick in den Spiegel heraus.
Bei diesem dritten Durchgang sehen wir manchmal ein glückliches, lächelndes, vergnügtes Gesicht – das Gesicht eines Gotts; dann ein ärgerliches, streitsüchtiges Gesicht – das Gesicht eines Titanen. Ein andermal zeigt sich uns ein ausgehungertes, hohlwangiges Gesicht, mit zusammengekniffenem Mund und unbefriedigter Miene – das Gesicht eines hungrigen Geistes. Bei einer anderen Gelegenheit erblicken wir ein unglückliches, elendes, ja sogar gequältes Antlitz – es gehört jemandem, der in der Hölle schmort. Oder wir sehen eine lange Schnauze oder Schnurrhaare oder große Reißzähne – ein Tiergesicht. Und manchmal erblicken wir auch, wenn wir in den Spiegel schauen, einfach ein gewöhnliches menschliches Antlitz. Doch was auch immer wir in einem gegebenen Augenblick im Spiegel sehen: Es sind wir selbst.
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